Verletzlichkeit

Will ich wirklich darüber schreiben? Von diesem Moment, wenn die schützende Hülle reißt und darunter der Kern zum Vorschein kommt. Nackt, zart und verletzlich.  Ich spüre die klaffende Wunde, ich bemerke den Schrecken, den der Riss auslöst. Und ich sehe, was darunter liegt. Es wird sichtbar. Vielleicht für andere sogar erfreulich sichtbar: Ah, das ist sie, da zeigt sie sich. Schön, dich zu sehen. Oder andere bemerken es gar nicht, sondern es geschieht nur in mir. Oder da sind die, die diesen Riss verursachen, die das Messer zücken und noch tiefer hineinstechen, bis es richtig weh tut.

Verletzlichkeit.

Dagegen rüste ich mich mit einem dicken Panzer. Im Focusingprozess zeigt er sich bei mir oft als Kettenhemd, das ich über den Schultern trage, schwer trage ich an diesem Schutzschild. Ich bin oft froh, dass ich ihn habe. Damit wage ich mich hinaus. Sicherheit einer Rolle, Rückgriff auf Kompetenzen, Wissen, Erfahrung. Das ist nicht verkehrt, im Gegenteil. Es macht mich handlungsfähig, erfolgreich, produktiv. Viele sehen nur diese Person und fragen sich: Was kann der schon etwas anhaben?

Wie sehr genieße ich Momente, in denen ich ohne den Panzer auskomme. Oft muss ich ihn erst bewusst ablegen, um selbst an die Schicht darunter heranzukommen. Wenn nicht nur ich mit mir in so einem offenen Kontakt bin, sondern auch noch andere in diese Gemeinschaft eintreten, erlebe ich Tiefe, Frieden, Glück, Verbindung. Oft ohne Worte. In der Stille. Wie beim „Tag der Stille“, den ich vor Kurzem in der Hoffnungskirche angeboten habe. Wie leicht war es da, ganz bei mir zu sein in dieser stillen Gemeinschaft voll Wohlwollen, Achtsamkeit und Aufmerksamkeit. Und gleichzeitig ist sovieles zwischen uns geschehen. Geteilte Stille ist etwas Heiliges.

Im Moment erlebe ich ein krasses Hin und Her zwischen dieser Tiefe und der Verletzung. Die Verletzung ist unmittelbar da, unvermittelt. Sofort fühle ich mich ungeschützt, es rauscht unaufhaltsam durch meinen Körper. Ich mache mich noch selbst dafür verantwortlich: Hier ist mein Herz, ich halte es euch hin, stecht ruhig zu! Alle Energie, die gerade noch da war, fließt ab wie das Wasser in der Badewanne, wenn der Stöpsel gezogen wurde. Ich kann nur hilflos zusehen, wie es verschwindet und alles mit sich reißt, was vorher noch da war. Erst ein Gefühl von Leere und dann kommt der Schmerz. Mein Verstand versucht Erklärungen zu finden. Sogar gute wie: Das hat auch mit der anderen Person zu tun. Ich kann es auch anders bewerten, was hier gerade geschieht. Doch das Gefühl von Verletzung bleibt. Manchmal länger als mir lieb ist. Da hilft kein „Stell Dich nicht so an!“ oder „So schlimm war das doch nicht.“ oder „Du solltest dringend an Dir arbeiten, das ist doch nicht normal!“ Diesen Stimmen will ich erst recht keinen Raum geben, meine eigenen inneren reichen mir schon völlig. Mir einen Tag zum Auskurieren gönnen, bis ich wieder im Lot bin. Mir zugestehen, dass meine Gefühle länger damit beschäftigt sind, wenn ich verletzt worden bin. Barmherzig mit mir umgehen. Einfach bei mir sein. Mir Gesellschaft leisten. Mit mir sein im Schmerz, mich bergen und halten.

Und irgendwie tröstet mich Sting mit Fragile.

 

Ich lade zu einer Übung ein: Kennst Du ihn auch, diesen Moment von Verletzlichkeit? Vielleicht gibt es ein Symbol dafür: einen Gegenstand, ein Kuscheltier, eine Karte, ein Blatt… Dieser Gegenstand steht für Deine Verletztlichkeit. Wie ist es, sie einfach nur zu betrachten? Vielleicht kannst Du sie fragen, wie alt sie ist, was sie erlebt hat, was sie gerade braucht. Wie möchte sie gehalten werden? Und gib ihr den Schutz, den sie so sehr braucht.

Reflexion: Was bedeutet es für Dich, Dich verletzlich zu zeigen?

 

Das Kleingedruckte:
Dieser Beitrag hat mich Mut, Kraft und (Prokrastinations)Zeit gekostet.

11 Kommentare zu „Verletzlichkeit

  1. Liebe Christiane,

    ja, das glaube ich, dass Dich dieser Beitrag einiges an Mut und Kraft und Zeit des Haderns und Kämpfens mit Dir selbst gekostet hat. Aber Du hast es geschafft! Du hast Mut bewiesen und die Kraft in Dir gefunden und diesen inspirierenden und bewundernswert offenen Artikel geschrieben. Zwischen all den berührenden Sätzen über deine Verletzlichkeit, die ja stellvertretend für unser aller Verletzlichkeit steht, bin ich vor allem an diesem Gedanken hängen geblieben: „schwer trage ich an diesem Schutzschild“.
    Das Schild, das uns schützen soll, ist gleichzeitig eine Last. Es kostet eine Menge Kraft, es mit uns herumzutragen… und gleichzeitig frage ich mich, nützt es etwas, schützt es uns denn wirklich vor Verletzungen oder machen wir uns nicht vielleicht etwas vor? Sind die potentiellen Verletzungen nicht längst in uns angelegt?
    Wäre es nicht sogar besser, wenn wir uns eingestehen, das wir verletzlich sind, dass wir Wunden davontragen werden, die uns mehr oder weniger, kürzer oder länger schmerzen, aber eben auch wieder heilen werden, nicht alle von ihnen spurlos…?
    Insofern bedeutet, sich verletzlich zu zeigen, für mich, nicht die Kraft aufwenden zu müssen, so zu tun, als sei ich es nicht.

    Hier noch ein Gedicht von mir, an das ich im Zuge meiner von Dir inspirierten Überlegungen denken musste:

    Danach ZeitZeichen

    Der Schorf bricht auf
    vom Runenlicht der neugeborenen Haut,
    wähnst bleich dich,
    anders,
    reibst dich an der Neuheit der Gedanken,
    sehnst keines deiner and’ren Ichs zurück,
    weil sie den Schmerz nicht kannten
    & was er mit sich bringt,
    die neue Energie,
    die schneidend dich verbrannt
    nun Auferstehung ‚wirkt gen West,
    in einem Glanz,
    der Phönix blinzeln lässt.

    [mw|2002]

    Liebe Grüße
    mo…

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    1. Liebe Mo,
      danke für Deine anregenden Gedanken und das wunderschöne Gedicht.
      Ja, Wunden bleiben, Verletzungen geschehen immer wieder. Nicht dagegen wehren, ist ein Zustand von Gegenwärtigkeit. Ob alles schon in uns angelegt ist – darüber schreiben wir dann in der Philosophie 🙂
      Was Du schreibst, verstehe ich so: Die Verletzung ist schon in mir und wird durch einen aktuellen Anlass aktiviert. Ja, es schlägt in eine alte Kerbe. Dazu passt das Bild mit dem Schorf aus Deinem Gedicht. Es gibt daher auch eine tröstliche Annäherung an die Verletzung: Endlich nicht mehr verstecken, was sowieso da ist, was in mir ist und sich auswirkt – ob bewusst oder unbewusst. Für mich fühlt es sich noch so an, wie mich bewusst der Verletzung auszusetzen, sie geradezu einzuladen. Aber vielleicht ist es ja ganz anders? Darüber möchte ich gerne noch mehr von Dir hören/lesen!
      Herzlich
      Christiane

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      1. Liebe Christiane,

        ob alles schon in uns angelegt ist, das weiß ich auch nicht. Aber ja, ich denke, uns verletzt das, was wir irgendwo tief in uns glauben und wir glauben es, weil wir die Verletzung schon kennen, sie längst in uns tragen. Ich habe mal ein afrikanisches Sprichwort gelesen, dass ich leider nicht mehr ganz zusammenbekomme, aber das in etwa so ging, dass wir nur jene Geister fürchten, die schon längst in uns wohnen. Ich denke, das meint genau das.
        Obwohl ich durchaus die Chance einer Entwicklung in einer Verletzung sehe, würde ich vielleicht nicht soweit gehen, sie einladen zu wollen, vielleicht würde ich sie auch nicht gerade willkommen heißen, aber wenn sie denn einmal da wäre, würde ich ihr vielleicht einen Kaffee anbieten und hören, was sie zu sagen hat. 😉

        Liebe Grüße
        mo…

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  2. Liebe Christiane,
    den ganzen Tag bin ich mit deinen Zeilen schwanger gegangen, habe nachgespürt, wie das ist mit meiner Verletzlichkeit. Sie selbst fühlt sich schon in etwa an, wie du sie bei dir beschreibst. Aber den Schutzschild, den empfinde ich nicht unbedingt als Last oder Panzer, der mich unnötig von der Welt abschirmt. Vielmehr empfinde ich ihn gar nicht in der „geschützten“, „gesunden“ Situation, erst wenn er wie jetzt fehlt, weiß ich, was ich verloren habe. Natürlich kenne ich auch Situationen im Leben, in denen ich aufrüste und partout keinem zeigen will, was in mir vorgeht – das ist wirklich anstrengend.
    Entweder Panzer oder Verletztsein, rohes Fleisch? Für mich gehört ein Drittes dazwischen: mich richtig fühlen in meiner Haut und dabei um meine Verletzlichkeit wissen. Das ist erst mal nur ein Zwischenergebnis meiner Erkundungen, die du angeregt hast.
    Herzlichen Dank dafür, Amy

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    1. Liebe Amy,
      vielen Dank für das Teilen Deiner Erfahrungen. JA, kann ich da nur rufen: Mich richtig fühlen in meiner Haut und um meine Verletzlichkeit wissen! Das ist für mich auch der Zustand ohne Panzer, eins mit mir und dazu noch in einem tiefen Kontakt mit anderen. Oder gerade dann im tiefen Kontakt mit anderen? Ich erforsche es auch noch!
      Ich bin gespannt auf Deine weiteren Erkundungen.
      Herzlich
      Christiane

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  3. Eine starke Verletzlichkeit bei mir meldet sich im Bereich des „nicht gesehen/nicht verstanden werdens“. Viele tiefe Wunden bei mir entstehen dann oder reißen dann besonders heftig auf, wenn Menschen auf Filme, Geschichten, Interprationen in ihrem Inneren reagieren und keine wahrhaftige ehrliche Begegnung, kein wahrhaftiger Kontakt stattfinden kann. Dieser tiefe Schmerz, wenn ich versuche zu erklären, wo ich bin, wer ich bin, wo es blutet und wo ich Hilfe brauche und mein Gegenüber gar nicht richtig zuhört, behauptet zu wissen und zu kennen, wovon ich rede und dann wieder von etwas ganz Anderem spricht und ohne es zu merken, weitere Verletzungen zufügt. Und sich weiter mit dem Bild unterhält, das er von mir hat, statt mit mir. Schmerz, Verzweiflung und Einsamkeit werden dann immer größer und mein Gegenüber wundert sich. Weil er ist ja DA. Und ich spüre, dass er gar nicht da ist.

    Ich mag eine meiner tiefen Wunden mit folgender Metapher erklären:
    Ich habe ein blutendes Herz und ein gebrochenes Bein. Ich gehe damit zum Arzt, erkläre, wo mein Leid ist und was ich gerade brauche. Z.B ein Gips für mein Bein, eine Krücke und ein Pflaster oder eine Bandage für mein Herz, um die Blutung zu stoppen. Ich nehme ganz genau wahr, wo es brennt und welche Faktoren mich jetzt unterstützen und welche hinderlich sind. Deswegen erwähne ich auch die Tabus,wie z.B: Bitte heute nicht am Arm berühren. Das ist mir sehr wichtig. Mein Gegenüber hat dann angeblich alles verstanden, berührt mich am Arm, mein Pflaster bekomme ich nicht, stattdessen weitere Kratzer und Traumata und alle wundern sich, dass meine Verzweiflung am Ende noch größer ist als zuvor. Denn nachdem ich mich getraut habe zu meiner Hilfsbedürftigkeit zu stehen, Hilfe in Anspruch zu nehmen, bin ich am Ende gefühlt noch „kaputter“ als davor und brauche noch länger, um mich alleine zu erholen und zu „heilen“.

    Klingt jetzt alles sehr wirr, aber trotzdem danke fürs Mitteilen dürfen.

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    1. Vielen Dank für Deinen offenen Kommentar. Ja, das ist ein schmerzhafter Moment, wenn ich genau weiß, was ich brauche und es auch noch sage und andere trotzdem mit Füßen darauf treten. Ich bin auf der Suche nach solchen Herzensmenschen, die dieses TIEFgründige mit mir teilen. Es ist immer wieder ein Wagnis, mich so zu zeigen. Manchmal muss ich mich schützen, wenn ich merke, dass es nicht geteilt wird. Und manchmal öffnet sich ein anderes Herz und das ist ein Moment von tiefem Glück. Ich wünsche Dir auch solche Menschen und solche Momente.

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