Ich gehe in den Raum, steuere auf den Sessel am Fenster zu. Unter einer Lampe liegt ein Buch, es ist aufgeschlagen. Ich lese den ersten Satz.
„Ist mein Ziel verrutscht?“, fragte sie sich und passte es nochmal neu an. Sie wollte unbedingt in dieses Leben passen, aber immer wieder verrutschte etwas. Es zwickte und zwackte hier und da und manchmal war ein Tag zu groß und rutschte herunter. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wann sie zuletzt ihr Ziel formuliert hatte. Was wollte sie erreichen? Zu aufgetürmt lagen da die Aufgaben ihres Alltags. Manchmal reichte schon das alltäglich Nötigeste, um herauszufallen. Da fiel ihr das Aufstehen schon schwer – was wollte sie von diesem Tag? Oder ihre unendliche To-Do-Liste, die sie schon beim Frühstück angaffte, so dass sie den Mut verlor, irgendetwas anzupacken. Dann saß sie da, ihr Blick verlor sich in der Pfütze ihrer Teetasse und sie erstarrte. Bewegungslos verharrte sie so gleich morgens am Küchentisch. Verrutscht.
Was half es da, das Ziel zu kennen? Graue Nebelwolken verstellten den Blick. Hoffnungslose Tage wie diese wollte sie am liebsten aus ihrem Lebenskalender streichen. Aber sie blieben. Einer reihte sich an den anderen in dem Buch des Lebens. Las sie gerade in diesem Buch? Was war das für ein Raum? Wie war sie hierhergekommen? Plötzlich packte sie Angst und Neugier zugleich. Die Angst ließ sie in ihrem Sessel verharren, die Neugier ließ ihren Blick durch den Raum schweifen und blieb an dem Spiegel an der Wand gegenüber vom Fenster hängen. Ein verschnörkelter goldener Rahmen fasste das runde Glas ein. So einen würde sie sich niemals in ihre Wohnung hängen. Sie mochte kein Gold an Möbeln und sich im Spiegel sehen mochte sie auch nicht. Zu groß war das Erschrecken jeden Morgen: die dunklen Augenränder, das Haar kreuz und quer in alle Richtungen, die Falten um die Augen und auf der Stirn, die Altersflecken, die mehr wurden von Jahr zu Jahr. Nur die Augen, in den Augen sah sie den Funken Hoffnung, der sie aufstehen und in den Tag starten ließ.
Was hatte es mit diesem Spiegel auf sich? Sie fühlte sich hingezogen, noch konnte sie nicht aufstehen, irgendetwas hielt sie in diesem Sessel…
Hat dies auf Mia.Nachtschreiberin. rebloggt und kommentierte:
Liebe Christiane,
ein spannendes, unvollständiges (?)Textfragment: ein wiederkehrnender, lähmender Zustand oder der Anfang einer neuen Geschichte, ein wiederkehrender Traum oder gar eine etwas schräge Werbung für einen Spiegel mit goldenem Rahmen …;-) …
Alles und nichts, verrutscht. Wenige Worte, berührend und sehr tiefgehend,
danke,
Sabine
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Liebe Sabine,
da darf wohl manches offen bleiben 😉 Ich habe diese Text im Rahmen des Freudenwort-Schreibprojektes im Frühjahr geschrieben und er passte gerade so gut.
Danke für die Rückmeldung.
Christiane
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Nanu, frage ich mich, was ist das für ein Text, wo ist der Eingang, wo der Ausgang, wie viel Ich steckt in der Sie? Ich spüre Gefangensein, weiß jedoch nicht, ob der Spiegel, der Sessel, das Buch oder die Ziele gefangen halten. Und dann die vertrauten Fragen nach dem Vergehen, Mithalten, Ankommen, ins Leben passen, die Starre zwischen Angst und Hoffen … Dein Text wird noch ein bisschen in mir arbeiten, danke für den Anstoß.
Liebe Grüße von Amy (die noch nie irgendein Ziel formuliert hat, aber ahnt, dass man eines fühlen muss)
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Liebe Amy,
offene Fragen, die offen bleiben (dürfen). Alte Themen im neuen Gewand. Nicht alles gehört zu mir, daher habe ich mich ein bisschen der Autofiktion bedient (da kennst Du Dich besser aus! 🙂
Vielleicht sitze ich noch in dem Sessel, vielleicht schaue ich schon in den Spiegel. Vielleicht erfahrt Ihr, was ich dort sehe.
Liebe Grüße
Christiane
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