Heute wird es politisch. Oder gesellschaftskritisch. Oder glaubensweit. Bei welchem Begriff bleibst du hängen und horchst auf? Oder umgekehrt: Liest du nicht weiter, weil das nicht hierher gehört? Oder weil dein Bild von meiner Meinung dazu schon feststeht?
Ich fühle mich zerrissen. Die Zeit der Eindeutigkeiten ist vorbei. Schwarz und weiß sind nur die Extreme einer breiten Farbskala des grau. Und das ist nicht verkehrt, denn es bildet die Realität ab. Gleichzeitig verunsichert es, macht vieles un-be-greifbar, nimmt mir den festen Boden unter den Füßen, auf dem ich lange vermeintlich sicher stand. Wie geht es dir: Bist du gerne in Bewegung? Magst du Veränderungen? Ich für mich würde sagen: Ja und Nein – und schon wird es uneindeutig! Ich bin ein neugieriger Mensch, mich interessieren viele Themen, ich höre viele Podcasts, lese Bücher, rede mit Menschen, besuche Tagungen und Kongresse, Workshops und World Cafés usw. Ich bin innerlich unterwegs, stelle mich in Frage, suche nach neuen Wegen und Ideen. Gleichzeitig suche ich nach Halt, nach einem geschützten Raum, nach Sicherheit und Beständigkeit. Es wäre eine Katastrophe für mich, wenn ich von heut auf morgen meine Wohnung verlieren würde (wie es vielen Hunderttausenden von Menschen gerade passiert!). Hier erlebe ich Stabilität, verlässliche Beziehungen, wiederkehrende Rituale, eine gleichbleibende Ordnung in den Schränken (auch wenn es nicht so aussieht :-), hier habe ich meine Sachen, meinen Raum. Vielleicht brauche ich diesen äußeren Raum gerade, weil es in meinem Inneren manchmal zu viel Bewegung, zu viel Eruption und Unsicherheit gibt. Was gibt dir Halt? Wo erlebst du Verlässlichkeit? Was darf nicht wegbrechen, damit du stabil bleibst?
Nun ist viel weggebrochen in den letzten 2 Jahren. Das Ausmaß der inneren Instabilität ist meines Erachtens noch überhaupt nicht sichtbar oder greifbar. Wir mussten uns gesamtgesellschaftlich und vielleicht zum ersten Mal auch global (wobei das auf die Klimakrise auch zutrifft, aber da treffen die Einschränkungen und gesundheitlichen Folgen – noch – nicht jeden einzelnen, jede einzelne) mit einer Krise auseinandersetzen, die so vieles zum Teil von heute auf Morgen erschüttert und verändert hat. Wir mussten zunächst verstehen: Worum geht es eigentlich? Woher hole ich mir Informationen? Welchen Nachrichten, Medien, Quellen kann ich überhaupt trauen? Wie sehr muss ich mich inhaltlich in Virologie, Medizin, Politik einarbeiten, um mir überhaupt eine Meinung bilden zu können? Ich für meinen Teil merke: Dieser Prozess ist bei mir bis heute nicht abgeschlossen. Wie groß ist da der Wunsch nach Klarheit, Eindeutigkeit: Nun sagt doch endlich, was es bedeutet und was wir machen sollen! Und andere wehren sich genau dagegen: Jetzt sagen mir auch noch andere, was ich machen soll!
Mittlerweile reklamiert jeder und jede für sich die persönliche Freiheit der Meinungsäußerung. Ist das richtig? Auch hier gilt wieder: Ja und Nein. Es ist gut, wenn ich mich auf das verlassen kann, was andere recherchieren, analysieren und verstehbar kommunizieren, worin ich keine Expertin bin. Und gleichzeitig lasse ich mir das ungern als Eindeutigkeit verkaufen, möchte mir selbst eine Meinung bilden, überprüfe, was es für meine persönliche Situation bedeutet, was „von oben“ entschieden wurde. Es ist je nach eigener Prägung und Persönlichkeit ein Reflex zu spüren: Ich komme zu kurz! Ich werde übersehen! Niemand fragt nach mir! Dahinter stecken vermutlich viel ältere Erfahrungen und Ängste, die durch die äußere Verunsicherung massiv geschürt werden und mich aus der Bahn werfen. Das in mir anzuschauen ist sehr anstrengend, kostet Kraft und braucht wiederum geschützte und verlässliche Räume. Und genau die sind gerade äußerlich weggebrochen… Ein Teufelskreis.
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