Einfach Dasein

Jetzt. Einfach Dasein. Atmen. Mich spüren. Sehen, das gerade um mich ist. Auf die Geräusche hören, die mich gerade umgeben. Fühlen, was ich gerade jetzt spüre. In mir, auf meiner Haut, in meinem Herzen. Mein Dasein wird mir geschenkt, ich muss es nicht erarbeiten oder erkämpfen. Gerade las ich folgende Begebenheit:

Es ist ein warmer Sommertag, als wir den Spielplatz erreichen. Er fällt mir sofort auf in seiner langen weißen Kutte. Eine große Kapuze verdeckt ein wenig sein Gesicht. Nur der Bart lässt sich durch die Kopfbedeckung nicht verbergen. Es muss ein Mönch sein. Zu welcher Bruderschaft er wohl gehört? Er sitzt auf einem Mauervorsprung und sieht dem Treiben auf dem „Kolle“ (Spielplatz in Berlin) zu. Da meine Neugier größer als meine Ehrfurcht ist, gehe ich auf ihn zu und setze mich neben ihn. „Guten Tag, darf ich fragen zu welchem Orden Sie gehören?“ „Warum?“ „Weil sie aussehen wie ein Mönch. Ich nehme an, sie sind einer, oder?“ „Ja.“ –

Diese Ein-Wort-Antworten nerven mich. Ich kann ja verstehen, wenn einer sein Herz nicht auf der Zunge trägt, aber kann er nicht einen ganzen Satz zustande bringen? Oder will er mit mir gar nicht ins Gespräch kommen? Vielleicht bin ich ihm sogar lästig? Vielleicht will er nur allein sein? (…) In der kurzen Zeit meines Nachdenkens hat mir mein Nachbar noch nicht mal sein Gesicht zugewandt. Gerade als ich überlege, ob ich ihn vielleicht doch in Ruhe lassen und mir einen anderen Platz suchen sollte, zieht er seine Kapuze vom Kopf, schaut mich an und sagt: „Ich gehöre zu den Franziskanern.“ Also doch. Er kann in ganzen Sätzen sprechen, denke ich belustigt. Ich bekomme wieder Hoffnung und starte einen zweiten Gesprächsversuch: „Ja, hier in Berlin gibt es die Franziskaner. Sie unterhalten eine Suppenküche für wohnungslose Menschen. Gehören Sie zu ihnen?“ „Nein.“ Pause. Geht das jetzt schon wieder los? Muss ich ihm denn jedes Wort aus der Nase ziehen? Doch ganz plötzlich fährt er fort: „Ich komme aus Jerusalem.“ Sofort frage ich weiter: „Und was machen Sie hier in Deutschland und dann noch in Berlin?“ „Nichts.“ „Nichts?“ „Nichts.“ „Aber haben Sie denn keinen Auftrag? Hat Sie niemand hierher geschickt?“ Pause. „Ich wurde hierhergeschickt.“ „Ja, und was sollen Sie hier?“ „Dasein.“ „Dasein?“ „Dasein“. Pause. „Es genügt, dass ich hier bin. Dasein reicht aus. Gott verlangt nicht viel von uns, nur Dasein.“

(Johannes Rosemann, in: Die Gemeinde 09/2017, S. 12)

So schwer fällt mir das oft. Auch in mir sind die Stimmen so laut, die mir sagen, dass ich doch nützlich, produktiv sein muss, dass ich etwas tun muss, etwas anfangen mit meinem Leben, mich einsetzen. Zweck- und Nutzenorientierung sind so starke Motoren in der Gesellschaft und auch in meinem Leben. Was heißt es, einfach da zu sein von Moment zu Moment?

Werde ich dann nicht total unproduktiv? Ja, das kann sein.

Schaffe ich dann nicht viel weniger? Ja, das kann sein.

Nutze ich mein Leben und was mir gegeben ist, dann nicht richtig? Das bezweifel ich. Was ist denn der „Nutzen“ meines Lebens? Worin wird mein Wert gemessen? Im Dasein. Das genügt.

Und an dem Tag, als ich den Text las, bekam ich auch noch dieses Lied geschenkt: Einfach sein.

Dasein – den Vogelstimmen des Frühlings lauschen.

Dasein – mit der Katze auf dem Schoß.

Dasein – am Flügel sitzen und Stücke von Ludovico Einaudi spielen.

Dasein – neben meinem Liebsten zu Hause.

Nachtrag:

Nachdem ich den Post veröffentlicht hatte, begegnete mir noch dieser passende Text, den ich Euch nicht vorenthalten möchte:

Manche Menschen wissen nicht,
wie wichtig es ist, dass sie einfach da sind.

Manche Menschen wissen nicht,
wie gut es tut, sie nur zu sehen.

Manche Menschen wissen nicht,
wie tröstlich ihr gütiges Lächeln wirkt.

Manche Menschen wissen nicht,
wie wohltuend ihre Nähe ist.

Manche Menschen wissen nicht,
wie viel ärmer wir ohne sie wären.

Manche Menschen wissen nicht,
dass sie ein Geschenk des Himmels sind.

Sie wüssten es,
würden wir es ihnen sagen.

Petrus Celeen

Ich lade zu einer Übung ein: Öffne Augen, Ohren und das Herz: Was ist Dein Dasein heute? Wie bist Du  heute einfach so in der Welt,  in Dir, bei Gott? Was siehst, hörst, riechst, spürst, fühlst Du?

Reflexion: Was hilft mir, einfach da zu sein?

 

 

13 Kommentare zu „Einfach Dasein

  1. Liebe Christiane,
    ein — wie immer — lesenswerter Beitrag, der mir so gut tut: gleich das Gefühl, weniger allein zu sein.
    Auch das Lied — was für ein Text!!
    Vielen Dank,
    Fe.

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  2. Liebe Christiane, vielen Dank für diesen schönen Text! Genau diese Fragen stellen ich mir fasst jede Nacht.. Um einfach da zu sein, müsste man erstmal registrieren, dass man da ist! Und das geht am Besten durch „Achtsamkeit“. Ich glaube aber, dass viel mehr dazu gehört, wie; Mut, Entschleunigung, Aufmerksamkeit..

    Liebe Grüße
    Gökhan

    Gefällt 1 Person

    1. Lieber Gökhan,
      ja, das ist es gerade, dass das Einfache manchmal so schwer zu haben ist. Und Übung bedarf. Danke für die weiteren Stichworte, sie kommen in meine A-Z-Sammlung möglicher Blogthemen.
      Erholsamen Schlaf wünscht Dir
      Christiane

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  3. Vielen Dank für deinen Beitrag, deine Worte, die Geschichte, das Lied. Was für eine Provokation ein Franziskaner-Mönch so ganz ohne Auftrag sein kann. Ich glaube, die Geschichte nehme ich heute Abend in die Supervisionsgruppe mit. Danke für die Inspiration. ❤

    Gefällt 1 Person

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