Dankbarkeit in Zeiten von Corona – das klingt wie Schlittschuhlaufen im Hochsommer. Es ist unmöglich. Die Rahmenbedingungen stimmen nicht. Es ist nicht die Jahreszeit für Dankbarkeit. Es gibt derzeit Momente – und manchmal reihen sich die Momente so lange aneinander, dass ein Tag daraus wird -, in denen ich diesem Sog nachgebe, der mich in Pessimismus und Angst hineinzieht und mir die Sicht auf vieles verstellt, was in meinem Leben auch noch da ist. Diesem Sog ein fröhliches „Sei dankbar, für alles, was Du hast“ entgegenzustellen, ist zu einfach, ist Oberflächenkosmetik. Denn es ist ein bewusstes Durchleben der Dunkelheit, des Schmerzes, der Hilflosigkeit nötig, ja diese Empfindungen und Gedanken zulassen können und wahrnehmen, dass ich mich gerade so fühle und sie nicht verdränge. Ich kann sie dann als einen Teil von mir ansehen, der sich gerade so verloren oder … fühlt. Damit kann ich anerkennen, dass es da ist, und so auch ein wenig Abstand gewinnen. Ich BIN nicht diese Angst, dieser Schmerz, diese Hilflosigkeit, sondern EIN Teil von mir empfindet es gerade so. Und diesen Teil kann ich dann anschauen, ihn fragen, was er mir sagen möchte und was er braucht. Ich höre dabei auf meinen Körper, denn diese Teile sind eingewoben in eine ganze Geschichte, in einen Lebensfluss, der körperlich manifestiert ist. Vielleicht gibt es da einen Stop, den mein Körper erlebt hat, und der sich jetzt, wenn ich dabei bleibe, auflösen und einen neuen Weg der Fortsetzung im Lebenfluss bahnen kann. Das ist ein Schöpfungsgeschehen, es geschieht, ich überlasse mich vertrauensvoll dem sich öffnenden, sich entfaltenden Empfinden, so dass sich etwas Neues bahnbrechen kann. Ein Gefühl der Erleichterung tritt ein: Das Schwere wurde gesehen und wahrgenommen, und das dahinter, was leben will, konnte wieder freigelegt werden. Der Blick kann sich weiten. Auch wenn ich dem Empfinden von Angst und Hilflosigkeit immer wieder einen Platz in meinem Leben geben oder einräumen muss, so bin ich doch mehr als das.
Wenn ich mir dieses Mehr ansehe, ist da so vieles, wofür ich dankbar bin, auch in Zeiten von Corona.
Ich bin dankbar für den blauen Himmel im November.
Ich bin dankbar für unsere warme Wohnung.
Ich bin dankbar für meine Familie, mit der ich im Homeoffice zu Hause bin. Welch Gnade nicht allein zu sein.
Ich bin dankbar für meine Freundinnen und Freunde, mit denen ich auch jetzt Kontakt habe über das Telefon, Chats, Videotreffen, Briefe, E-Mails und Spaziergänge.
Ich bin dankbar für Musik, mein Klavier und den Spotify-Familien-Account.
Ich bin dankbar für unsere Katze, die von all dem scheinbar unberührt ist und doch sensibel jede Veränderung bemerkt.
Ich bin dankbar für Spaziergänge durch alle Jahreszeiten, die ich in diesem Jahr viel intensiver erlebt und genossen habe.
Ich bin dankbar für Küchentischgottesdienste, Communi-App und Wohnzimmer-Abendmahlsgemeinschaft.
Ich bin dankbar für digitale Morgenmeditationen und social-media-Abendsegen.
Ich bin dankbar für meine Arbeitsstelle, die mir eine sinnvolle Tätigkeit und existentielle Sicherheit gibt.
Ich bin dankbar für das Schreiben, das mir jeden Tag die Gelegenheit gibt, nachzudenken, bei mir zu sein, neue Gedanken zu entwickeln, Erlebtes zu verarbeiten und mich inspiriert.
Ich bin dankbar für Pressefreiheit und parlamentarische Demokratie in unserem Land.
Ich bin dankbar für eine umsichtige Regierung, die eingesteht, dass sie auf Sicht fährt.
Ich bin dankbar für unser Gesundheitssystem und danke allen, die sich hier engagiert und oft über die eigenen Kräfte hinaus einsetzen.
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