Geschmack

Wie schmeckt der Wein? Am Ostersonntag habe ich nach Sieben Wochen ohne das erste Glas Wein getrunken. Ein Bio-Spätburgunder aus der Pfalz, helles rot im Glas, zarter Duft nach Vanille. Und dann der erste Schluck! Johannisbeer- und Erdbeeraromen! Der Geschmack des Frühlings oder gar Frühsommers liegt in diesem ersten Tropfen. So intensiv nehme ich die Nuancen wahr, seit meine Geschmacksnerven ein paar Wochen Pause vom Wein hatten (bis auf Ausnahmen :-)) Auch der Alkohl wirkt stärker nach längerer Abstinenz, ein Glas reicht mir zum Essen. Der Geschmack von Beeren, Rosen vielleicht und ein Hauch von Holz liegt noch auf meiner Zunge. Woran erinnert mich dieser Geschmack? Welche Situationen kommen mir in den Sinn? Geschmackserinnerungen sind körperlich verankert, holen mich unmittelbar ein, als wenn ich in eine andere Zeit versetzt werde und noch bevor mein Gehirn dazu bewusste Szenen liefert. Auch Geruchserinnerungen können sehr prägnant sein und mich mit längst Vergangenem verbinden. Oder umgekehrt: Ich erinnere mich an etwas – ausgelöst durch eine Frage im Beratungsprozess oder im Gespräch mit einer Freundin – und plötzlich habe ich diesen Geruch in der Nase oder so einen gewissen Geschmack in meinem Mund. Im Focusing-Prozess biete ich alle Modalitäten des Erlebens an: Körperempfindungen, Emotionen, Imaginationen, Auditionen, Kognitionen und Handlungen für die Entfaltung eines impliziten Empfindens, eines Felt sense. Ein Erlebnis kann einen bestimmten Geschmack haben oder nach etwas riechen.

Nicht nur Worte oder innere Bilder bringen uns auf die Spur innerer Prozesse, auch der Körper selbst sucht fortwährend nach Möglichkeiten, steckengebliebene Lebensprozesse fortzusetzen. Wir sind darum nicht ausschließlich auf uns und unsere bewusste Kompetenz angewiesen, sondern dürfen uns ruhig auch auf unseren Körper verlassen. (Klaus Renn: Magische Momente, 2016, S. 165)

Zu Focusing in den nächsten Beiträgen mehr!

Ich lade zu einer Übung ein: Wenn Du beim nächsten intensiven Geschmack auf eine Erinnerung stößt, schließ die Augen und spüre dem nach: Wonach schmeckt diese Erinnerung? Was riechst Du an diesem Ort?

Reflexion: Welche Körperempfindungen reagieren, bevor Du Dein Denken einschaltest?

9 Kommentare zu „Geschmack

  1. Liebe Christiane,
    mit dem Wein hast du mich geködert. Da ich gerade wieder auf dem Weingut wohne, schaff ich es leider nicht, sieben Wochen abstinent zu leben, zu oft muss ich mit Kunden Wein probieren. Ich gebe auch zu, mir fehlt der Wille zum Verzicht, praktisch egal auf was, und habe großen Respekt vor allen Menschen, denen es gelingt, Gewohnheiten abzulegen, egal ob für eine gewisse Zeit oder dauerhaft.
    Bei mir ist es eher der Geruchssinn, der Erinnerungen hervorruft. Wenn irgendwo eine Braunkohle-Heizung qualmt, sind gleich meine ersten Berliner Jahre in meinem Bewusstsein, ich sehe die Straßen, in denen ich gewohnt, gelacht, geliebt und gelitten habe. Oder der wie riecht der Herbst? Bei mir gar nicht so nach gefallenem Laub, sondern es ist der Geruch aus dem Kelterhaus von abgepressten Trauben. Da sehe ich meinen Vater vor mir und mich als Zwerg daneben an unserer antiquierten Holzpresse. Wenn man mich blind in eine Stadt fliegen würde, die ich schon einmal besucht habe, und dann (mit Gehörschutz) in die U-Bahn setzte, würde ich wahrscheinlich allein am U-Bahn-Geruch die Stadt erkennen. Natürlich stinkt es in der Pariser Metro, aber für mich war es mal der schönste Ort der Welt, das hat sich eingebrannt.
    Ich bin dankbar für Deinen Beitrag, weil er etwas aus meinem Inneren hochgekramt hat und weil ich endlich einen Einstieg in dein Blog-Thema gefunden habe.
    Herzliche Grüße
    Amy Novice

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  2. Liebe Christiane,
    Das Thema „Geschmack“ zupft mich an. Ich habe eine ganz starke Geschmackserinnerung aus der Kindheit. In den 50er Jahren war ich mit meinen Eltern in Italien und habe da Rucola im Salat gegessen. Das gab es damals und lange Zeit später auch noch nicht in Deutschland.Deshalb ahbe ich Geschmack und Namen auch wieder vergessen. Irgendwann dann- ich glaube es war in den 80ern – entdeckte Deutschland dann Rauke. Und da war er wieder der Geschmack aus uralten vergangenen Zeiten. Ich wurde wieder das kleine Mädchen von vier Jahren. Jedesmal wenn ich jetzt Rauke esse, stiehlt sich ein leises Erinnerungslächeln in mein Gesicht.
    Danke für die Anstiftung zur Zeitreise.
    Liebe Grüße
    Anne

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  3. Liebe Christiane,
    sieben Wochen „ohne …“ , um das „ohne …“ danach wieder intensiver, mehr und deutlicher zu schmecken, zu erleben und zu spüren… Sehr eindringlich, sehr sinnlich, sehr inspirierend, danke dafür,
    liebe Grüße,
    Sabine

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  4. Liebe Christiane,
    wie wundervoll Du den Genuss eines Glas Rotweines beschreibst, da bekomme ich nicht übel Lust, mir selbst eine Flasche zu öffnen und mir heute Abend ein Gläschen zu gönnen… Ich habe gerade keine Geschmacks- oder Geruchserinnerung parat, die kommen mir tatsächlich hauptsächlich während des erneuten Genusses. Ich habe aber zum Beispiel oft auditive Erinnerungen. Ein Lied kann mich – boom – direkt in die Vergangenheit katapultieren, kann „alte“ Gefühle quasi auf Knopfdruck erneut auslösen. Das finde ich immer wieder spannend.
    lg. mo…

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    1. Liebe Mo,
      ja, Musik hat bei mir auch eine starke Wirkung. Sie erreicht auch andere Ebenen der Wahrnehmung. Dazu habe ich auch starke Erlebnisse im letzten Jahr gehabt. Dem werde ich mich in meinem Blog sicher auch mal widmen!
      Danke für’s Teilen!
      Liebe Grüße
      Christiane

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      1. Kaum drüber geredet, hatte ich gestern eine sehr intensive Geruchserinnerung. Ein Kollegin schenkte sich Kräutertee aus einer Thermoskanne ein und just war ich zurück in meiner Kindheit. Ich war jedes Jahr im Sommerferienlager und dort gab es immer für alle frei zugänglich große Thermosfässer mit leicht gesüsstem Kräutertee für die sommerliche Erfrischung. Der Kräuterteegeruch ist für mich sehr stark mit dieser Assoziation verknüpft. Er bedeutet für mich Sommer, Freiheit, Freundschaft, Spaß und Abenteuer…
        lg. mo…

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