Willkommen, innerer Kritiker!

Was? Das meinst Du doch nicht ernst oder? Doch.

Zur Zeit schreibe ich ganz viel. Und erarbeite neue Konzepte, leite Workshops. Also hat mein Innerer Kritiker Hochkonjunktur, ist immer im Einsatz, zeigt viel Ausdauer. Das merke ich daran, dass mein Wortgebrauch von „müssen“ und „sollen“ voll ist. Und dass ich diese Stimme höre, die sagt: „Das schaffst Du sowieso nicht.“ Oder: „Das kannst Du doch nicht einfach machen.“

Ganz oft höre ich den Hinweis, dass der Innere Kritiker in die Pause geschickt wird, vor der Tür bleiben soll oder noch radikaler in die Verbannung geschickt werden soll. Das Konzept der inneren Teilpersonen (s. Hinweise unten) lehrt mich, den Inneren Kritiker als einen Teil von mir zu sehen.  Im Focusing lasse ich alles zu, was da ist und sich zeigt. Also auch die kritischen Anteile in mir. Es nützt nichts, diesen Teil zu verbannen, wegzuschicken, außen vor zu lassen. Alles Verdrängte und Abgelehnte zeigt sich um so heftiger und sucht sich subtilere Schleichwege, um das Denken, Fühlen und Handeln zu durchkreuzen. Wie wäre es, mich dem Kritiker zuzuwenden, zu hören, wie es ihm geht? Das setzt voraus, dass ich nicht mit ihm identifiziert bin. Sondern, dass ich zunächst einen FreiRaum in mir schaffe, in dem ich sein kann. Von dort aus kann ich auf die verschiedenen Teile in mir schauen und mich ihnen zuwenden – oder auch Abstand nehmen, wenn sie mich ganz überwältigen wollen. Von dieser Instanz aus kann ich Kontakt aufnehmen. Von dort aus habe ich kürzlich in einem Focusing einen Teil in mir als „Moderatorin“ oder „Mediatorin“ zwischen den Teilen in mir kennengelernt. Als ich neulich in einer Workshopvorbereitung wieder mal mit viel „muss“ und vernichtenden Sätzen konfrontiert war, schrieb ich folgenden Dialog:

Moderatorin: He, Stop, Innerer Kritiker! Du kommst hier schon wieder ganz schön auf den Plan. Alle reden immer davon, dass sie Dich nicht haben wollen, dass Du beiseite geschoben werden sollst und gerade im Prozess nichts zu suchen hast. Mich wundert es überhaupt nicht, dass Dir das nicht passt. Daher sag ich: Willkommen! Lass Dich umarmen, Du Gute. Werde Teil von unserem Team! Auch Du bist hier wichtig! Auch Du hast hier einen Platz und Deine Aufgabe. Wie geht es Dir, wenn Du das hörst? Was brauchst Du gerade?
Innerer Kritiker: —
M: Hörst Du mich?
IK: Ja, aber…
M: Oh, Dir ist die „Ja, aber“-Struktur sehr vertraut. Verstehe. Ja, es gibt immer wichtige Gründe und andere Perspektiven. Lass uns prüfen, was davon jetzt für alle und für den Prozess hilfreich ist. Was möchtest Du mit „Ja, aber“ erreichen? Was ist Dein Grundmotiv?
IK: Du sollst Dich nicht überfordern.
M: Ah, Du möchtest nicht, dass ich mich überfordere.
IK: Außerdem wäre es peinlich, ein schlechtes Produkt abzuliefern.
M: Du möchtest Dich nicht schämen für das, was ich produziere. Wen hast Du dabei vor Augen, wenn Du diese Befürchtungen hast?
IK: Naja, Dich nicht, sondern diese kleine da…
M: Ah, die kleine Christiane, die sich so schnell begeistern lässt und 1000 Sachen anfängt? Ja, die gibt es auch hier im Team. Es wäre besser, wenn ich mal mit ihr darüber spreche, als wenn Du das direkt machst. Dann bekommt sie nämlich so schnell Angst. Ok? Du redest jetzt mit mir. Vielleicht darf ich Dich an ein paar Sachen erinnern und Dir etwas zeigen? Guck mal, hier sind die Rückmeldungen vom letzten Workshop und das Gutachten zur letzten Hausarbeit. Das sagen andere über unsere Arbeit. Wie siehst Du das? Nicht schlecht oder? Hier ist ein gutes Team am Start, das mit Begeisterung, Kompetenz und gegenseitiger Unterstützung ganz schön viel auf die Beine stellen kann. Machst Du mit? Was könnte Dein Beitrag dazu sein?
IK: Also, ich finde wichtig, dass die Fristen eingehalten werden.
M: Ok.
IK: Ich schmeiße mich ins Zeug, wenn es ans Überarbeiten geht.
M: Ok. Sehr hilfreich.
IK: Ich helfe beim Prioritäten setzen und plane realistisch.
M: Ok. Sehr gut. Du hast ein bisschen mehr Vertrauen gewonnen, dass wir es zusammen hinbekommen? Zusammen schaffen wir das nämlich! Willkommen im Team!

Mit dieser vorläufigen Arbeitsteilung war ich dann ganz zufrieden und konnte wieder weiter machen.

Noch weiter geht der Ansatz der Wandlung des Inneren Kritikers, wie Ann Weiser Cornell ihn beschreibt (Lit. s. unten). Es gibt einen Weg mit diesem Teil in mir in Kontakt zu kommen und ihn zu verwandeln.

  1. Ich nehme die kritische Sprache oder Stimme wahr, die dort spricht. Ich bemerke, dass gerade ein kritisierender Prozess stattfindet. Das ist ein Moment von Achtsamkeit.
  2. Ich verschaffe mir FreiRaum und mache mir klar, dass ich mehr bin, als dieser kritische Teil. Ich bin präsent mit allem, was sich innerlich/körperlich zeigt. Ich komme aus der Identifizierung heraus und formuliere: Da ist ein Teil von mir, der gerade kritisiert. Somit löse ich die festschreibende Instanz auf, die mit der Titulierung „der Innere Kritiker“ verbunden ist. Mit einem gewissen Forschergeist kann ich diesen Teil betrachten: Was bist Du für einer?
  3. Ich bin präsent und spüre, was da ist: Ein Teil von mir ist gerade kritisch. In welcher Form nehme ich diesen Teil wahr: körperlich, als Stimme, in einem Bild, als Gefühl?
  4. Wie wäre es jetzt, mich diesem Teil mit Mitgefühl zu nähern? Hinter diesem kritisierenden Teil steckt eine Angst. Wovor hat dieser Teil Angst? Wovor möchte er mich schützen? Worüber möchte er die Kontrolle behalten? Diese Fragen bringen mich hinter diesen vordergründig harten Teil, der oft streng, kleinmachend, mächtig auftritt. Angst kann sich vielfältig zeigen. Sie kann ein panischer Schrecken sein, der mir sofort ins Gesicht geschrieben steht. Sie kann sich aber auch in Sorge und Bedenken ausdrücken. Es ist also alles gleichzeitig da: Ein Teil von mir, der loslegen möchte, und ein Teil, der Angst, Sorgen und Bedenken hat und dies in Form von Kritik äußert (zu erkennen an der Sprache, die herabsetzend ist, Urteile ausspricht, von „Sollen“ und „Müssen“ gespickt ist).
  5. Wie in einer Beratungssituation kann ich mich diesem ängstlichen Teil, der sich durch Kritik zeigt, empathisch nähern: Aussprechen, dass ich diese Angst verständlich finde: „Kein Wunder, dass Du Angst hast, hier passieren ja gerade auch Veränderungen, die neu sind.“ Es ist gut, zu verstehen, worin die Sorge genau besteht: Was will dieser Teil nicht, was mir geschieht? „Du überforderst Dich! Du machst Dich lächerlich! Du wirst nicht genug können!“
  6. Die nächste Frage ist: Was will dieser Teil denn, dass ich erlebe oder fühle? Das kann oft sehr überraschend sein, was dann kommt. „Ich möchte, dass Du großartig bist! Ich möchte Dich da auf der Bühne glänzen sehen!“ Wie auch im Leben spricht dieser Teil oft erst die größte Befürchtung aus, obwohl dahinter ein helfender Beschützer steckt. Beispiel: „Du holst Dir noch den Tod!“ – ist nicht wirklich gemeint, wenn Eltern das sagen, sondern sie meinen: „Zieh Dich warm an, draußen ist es bitterkalt.“ Wir aber verinnerlichen den vernichtenden Satz und übersehen den helfenden Impuls dahinter. Dieser kritisierende Teil braucht selbst erst wieder einen vertrauensvollen Prozess, in dem er gehört wird, damit hinter der kritischen Stimme die Sorge und Bedenken zum Vorschein kommen können. Wenn dann ausgesprochen ist, was er nicht will, kann die Einladung ausgesprochen werden, zu sagen, was er denn will. Und diese Botschaft lasse ich dann körperlich auf mich wirken.Und wie anders ist es zu hören: „Du bist großartig! Zeig Dich! Ich bin stolz auf Dich!“ als „Du kannst das sowieso nicht.“

Diese Wandlung ist ein Prozess, der in Focusing-Art in mir Gestalt annimmt. Zum Schluss möchte ich Ann Weiser Cornell selbst zu Wort kommen lassen:

Focusing zu betreiben, (…), sich den inneren kritisierenden Teilen jedes Mal, wenn sie aufsteigen, verständnisvoll zuzuwenden und, sobald diese bereit sind, ein Gespür einzuladen für das, was sie nicht wollen und für das, was sie wollen, wird dauerhaften und tiefen Wandel bringen.
Ann Weiser Cornell (2009): Die Verwandlung des Inneren Kritikers. Focusing-Journal, Nr. 22, S. 29

Diese Wandlung wünsche ich mir und Euch.

 

Literatur und Hinweise zum Konzept der Teilpersönlichkeiten:

Ann Weiser Cornell (2005): Die Kunst des Annehmens. Leben und Arbeiten mit Focusing. Norderstedt.

Richard Schwartz (1997): Systemische Therapie mit der inneren Familie. München.

Klaus Renn nennt in „Magische Momente“ weitere Wurzeln des Konzeptes der Teilpersönlichkeiten, u.a. Roberto Assagioli, C.G. Jung, Virginia Satir, Friedemann Schulz von Thun, Alberto Pesso, Eric Berne.

12 Kommentare zu „Willkommen, innerer Kritiker!

  1. Liebe Christiane, ja, solche inneren Diskussionen kenne ich zur Genüge, vor Lesungen, vor Seminaren und dann trinken wir danach einen Kaffee auf den gemeinsamen Erfolg, wenn wir beide für einen kurzen Momemt das Gefühl haben, wir brauchen uns beide…;-)
    Viele Grüße,
    Mia

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  2. Ein sehr interessanter Beitrag, danke dafür! So habe ich den Inneren Kritiker noch gar nicht betrachtet.
    Bei deinem Gespräch mit deinem Kritiker ist mir eine Kleinigkeit aufgefallen: Du sagst quasi zu ihm: Schau dir diese Rückmeldungen an, nicht schlecht, oder? „Nicht schlecht“ ist nicht gut für unser Unterbewusstsein. Das hört die Negierung nämlich nicht, sondern nur „schlecht“. Besser ist, klar und ohne Umschweife etwas als gut oder sogar sehr gut zu betiteln. Das prägt sich dann auch entsprechend in unserem Unterbewusstsein ein. 😉
    Liebe Grüße, Alex

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  3. Liebe Christiane,
    das klingt nach einer guten Maßnahme mit dem inneren Kritiker in einen Dialog zu treten und ihn nach seinem Antrieb zu fragen. Du erfährst von Deiner inneren kritischen Stimme letztlich dabei Zuwendung, wenn Du hörst, sie will Dich ja eigentlich schützen – vor Überforderung, vor Mißerfolg. Meine innere Stimme ist aber oftmals mein Vater, der mir suggeriert, „das schaffst Du sowieso nicht, das sind nur Flausen in Deinem Kopf “ und eigentlich die Botschaft vermittelt: „Das darfst Du nicht, denn Du darfst nicht anders sein und schon gar nicht besser sein als ich. Du darfst keinen Spaß haben, denn den hatte ich auch nie“. Die Idee mit dieser Stimme einen Kaffee trinken zu gehen, ist gewöhnungsbedürftig und mich ihr liebevoll zuzuwenden noch ungewohnter. Aber arbeite an dieser Vorstellung….
    Liebe Grüße
    Anne

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    1. Liebe Anne,
      danke für Deine Antwort! Ja, hinter dieser kritischen Stimme stehen meistens die Personen, die in unserer Kindheit eine große Wirkung auf uns hatten. Die Frage ist: In welcher Position bist Du heute gegenüber Deinem Vater? Wirkt er noch in der Weise oder „wirkt“ „nur“ noch seine Stimme in Dir, die Du verinnerlicht hast mit all dem Unfertigen und Vorwürfen aus seiner brüchigen Lebensgeschichte? Es wäre noch mal ein anderer Prozess „dem Vater“ in sich zu begegnen… Dazu könnten wir tatsächlich mal ein „echtes“ Focusing machen…
      Herzlich
      Christiane

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      1. Liebe Christiane,
        da fehlt doch in meinem letzten Satz das entscheidende Wort „ich“, Er sollte eigentlich heißen:Aber ich arbeite an dieser Vorstellung. Es war keinesfalls als Aufforderung an Dich gemeint. Ich habe schon den ganzen Tag die Idee im Kopf in einen fiktiven Dialog mit meinem Vater zu treten und ein Gespräch niederzuschreiben, wie es heute wohl laufen würde, wenn wir uns in einem Cafe zu einem Gespräch treffen würden. Ich umkreise diese Idee noch ein bisschen…..
        Liebe Grüße
        Anne

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  4. Liebe Christiane,

    der Post ist ja schon fast 2 Jahre her, aber ich habe ihn erst heute entdeckt… Toll, wie hilfreich Du hier den wertschätzenden Umgang mit unseren kritschen Anteilen beschreibst!
    Ich halte Dir dolle die Daumen, dass Dir das gerade auch derzeit immer wieder gut gelingt!!!

    Liebe Grüße
    mo…

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